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Wehrpflicht-Debatte in Deutschland: Wie wird in Europa gedient?
- Veröffentlicht: 18.07.2025
- 17:39 Uhr
- Domagoj Klobučar
Seit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat sich die Sicherheitslage in Europa verändert - und die NATO reagiert. In Deutschland wird der Ruf nach einer Wehrpflicht lauter. Wie organisieren andere europäische Staaten ihren Wehrdienst?
Inhalt
- Polen rüstet auf - ohne Wehrpflicht
- Das Baltikum - Sorgen bei Russlands Nachbarn
- Skandinavien reagiert auf russische Bedrohung
- Frankreich setzt auf Freiwilligkeit
- Herausforderungen bei Rekrutierung im UK
- Wehrpflicht in Österreich und der Schweiz
- Mehr Gelassenheit im Süden
- Irlands Armee ist offen für Geflüchtete
"Es muss klar sein, dass der Einsatz für das eigene Land etwas Besonderes ist. Wir werden das Sinnstiftende in den Vordergrund stellen." Diese Worte wählte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) beim Besuch der Bundeswehrkaserne in Germersheim, Rheinland-Pfalz, am Donnerstag (17. Juli). Hier wollte er sich nach eigener Aussage ein Bild vom neuen Wehrdienst machen.
Pistorius' Ziel sei es, junge Menschen für den freiwilligen Dienst zu gewinnen – auch mit verbesserter Infrastruktur und Ausbildung auf Augenhöhe. Die Wehrpflicht ist seit dem russischen Angriff auf die Ukraine auch in Deutschland wieder in den Fokus gerückt.
Pistorius setzt zunächst auf Freiwilligkeit, hält sich aber die Option offen, verpflichtend einzuberufen, falls nicht genügend Freiwillige kommen. Die Bundeswehr brauche etwa 60.000 aktive Soldat:innen zusätzlich und längerfristig eine Aufstockung von 200.000 Reservist:innen. Konkretere Pläne legte der Bundesverteidigunsminister selbst bereits im Juni vor. Der Gesetzentwurf für einen attraktiveren Wehrdienst soll Ende August vom Kabinett verabschiedet werden.
Die aktive Wehrpflicht in Deutschland setzt seit 2011 aus - mit Ausnahme von Spannungs- und Verteidigungsfällen. Sie galt zunächst ausschließlich für Männer ab 18 Jahren, die sich für mindestens sechs Monate verpflichteten. Doch wie handhaben es andere europäische Länder und NATO-Mitglieder mit der Wehrpflicht und der Stärkung ihrer Verteidigungsbereitschaft?
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Polen rüstet auf - ohne Wehrpflicht
Der deutsche Nachbar im Osten, Polen, empfindet die Notwendigkeit, die Größe seiner Armee, einschließlich Reservist:innen, auf 500.000 zu erhöhen. Derzeit zählen die Streitkräfte rund 200.000 Soldat:innen. Der polnische Premierminister Donald Tusk verkündete im März 2025 den Plan, eine Reservetruppe zu schaffen und die Verteidigungsausgaben bis auf fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu erhöhen - berichtete die ZEIT. Zudem soll künftig jeder erwachsene Mann ein militärisches Training erhalten. Als Grund nennt auch Tusk die veränderte Sicherheitslage in Europa. Derzeit gibt es in Polen keine Wehrpflicht. Sie war dort 2009 abgeschafft worden und zog Männer im Alter zwischen 18 und 63 Jahren ein.
Polens geopolitische Lage treibt hierbei die militärischen Wachstumspläne an: Das Land ist Teil der NATO-Ostgrenze, direkter Nachbar des russischen Verbündeten Belarus, der russischen Exklave Kaliningrad und nicht zuletzt der Ukraine.
Das Baltikum - Sorgen bei Russlands Nachbarn
Das baltische Lettland hat 2023 angesichts der russischen Bedrohung die 2007 abgeschaffte Wehrpflicht für Männer wieder eingeführt. Das verwendete System hat allerdings Ähnlichkeiten mit den skandinavischen Modellen, bei denen Wehrpflichtige erst dann in begrenztem Umfang eingezogen werden, wenn es nicht genug Freiwillige gibt. Frauen können sich ebenfalls freiwillig zum Wehrdienst melden.
Litauen verpflichtet alle Männer bis zu 26 Jahren zu einem neunmonatigen Wehrdienst. Jährlich rekrutiert der baltische Staat bis zu 4000 Männer über ein automatisiertes Lotteriesystem. Frauen steht es hingegen frei, sich zu melden.
Rund zwei Drittel der Esten sorgen sich, Russland könne versuchen, seine Macht in den Nachbarstaaten wiederherzustellen. Das zeigt eine offizielle Umfrage des Verteidigungsministeriums. 64 Prozent der Esten wären bereit, ihr Land im Ernstfall zu vertedigen. "Wir erhöhen gerade unsere Bereitschaft. Und das ist es, was alle tun müssen. Nicht nur hier in Estland, sondern alle anderen auch", so der estnische Verteidigungsminister Hanno Pevkur im Februar 2024. Die Wehrpflicht wurde für Männer ab 18 Jahren 1992 eingeführt und seitdem beibehalten.
Skandinavien reagiert auf russische Bedrohung
Laut Deutscher Presse-Agentur führt Dänemark bereits im kommenden Jahr die Wehrpflicht auch für Frauen ein. Die allgemeine Wehrpflicht besteht bereits seit 1849. Das Einberufungsalter beträgt 18 Jahre – auch für den freiwilligen Wehrdienst. Ein Tauglichkeitstest und ein Losverfahren bestimmen, wer dienen muss. Reichen die Freiwilligen nicht aus, erfolgt die Einberufung zwangsweise. Kriegsdienstverweigerer:innen leisten sechs Monate einen zivilen Dienst.
Dänemark wird somit das zweite EU-Land, in dem eine Wehrpflicht für Frauen besteht. Im neusten NATO-Mitgied Schweden, dass dem Verteidigungsbündnis im März 2024 beitrat, gilt diese seit 2017. Die 2010 abgeschaffte Wehrpflicht ist dort im Januar 2018 zurückgekehrt. Seitdem gilt eine selektive Wehrpflicht für beide Geschlechter. Alle 18-jährigen Bürger:innen erhalten neben den üblichen Glückwünschen zur Volljährigkeit einen Brief, der sie auffordert, ihrem Land zu dienen. Der Dienst dauert mindestens neun und geht bis zu 15 Monate. Zuletzt stellten Frauen mehr als 20 Prozent des Personals.
Da die Wehrpflicht vor allem in Ländern aufrechterhalten wird und wurde, die in Russlands unmittelbarer Reichweite liegen, rückt in Skandinavien Finnland in den Fokus. Seit 1951 gilt dort die allgemeine Wehrpflicht. Mit 18 Jahren müssen alle Männer bis zu zwölf Monate in der Armee oder beim Grenzschutz dienen. Frauen leisten freiwillig Wehrdienst. Nach der Wehrpflicht wechseln die Männer in die Reserve. Jährlich rücken etwa 21.000 Wehrpflichtige ein. Die Finn:innen nehmen das östliche Nachbarland Russland nach dessen Einmarsch in die Ukraine zum allergrößten Teil als Gefahr wahr. Das geht aus einer Befragung hervor, die das finnische Wirtschafts- und Politikforum EVA im April 2022 veröffentlicht hat. Demnach stuften 84 Prozent der Befragten Russland als eine erhebliche militärische Bedrohung ein.
Auch in Norwegen, das zwar Mitglied der NATO, aber nicht der EU ist, müssen Frauen den Wehrdienst antreten. Im Jahr 1907 wurde eine selektive Wehrpflicht für Männer und Frauen eingeführt. Jährlich werden Personen ausgewählt, die sich zuvor durch Tests qualifiziert haben. Das Heer hat auch eine rein weibliche Spezialeinheit, die "Jegertroppen", die 2014 gegründet wurde.
Frankreich setzt auf Freiwilligkeit
86 Prozent der Franzosen befürworten die Wiedereinführung des Wehrdienstes, wie aus einer Umfrage der Zeitung "Le Parisien" vom 15. März 2025 hervorgeht. Frankreichs Armee setzt seit 2001 auf Freiwillige. Wer sich zwischen 17 und 39 Jahren für den zwölfmonatigen Grundwehrdienst entscheidet, hat die Möglichkeit sich zu melden.
Eine Besonderheit: Männern ohne französische Staatsbürgerschaft steht der Weg in die Fremdenlegion, die sich durch äußerste Kampfbereitschaft und Standfestigkeit auszeichnet, offen – dort verpflichtet man sich für mindestens fünf Jahre.
Herausforderungen bei Rekrutierung im UK
In den Niederlanden hat der Verteidigungsminister Ruben Brekelmans eine Aktualisierung der "Defensienota" gefordert. Diese beinhaltet eine Vereinbarung zum militärischen Schutz von Feinden. Brekelmans verdeutlichte, dass die Verteidigungsanstrengungen der Niederlande durch die bestehende Anzahl an Berufssoldat:innen und Reservist:innen nicht mehr ausreiche. Die Niederlande bietet einen Freiwilligendienst für Männer und Frauen ab 17 Jahren an - das Militär besteht ausschließelich aus Freiwilligen. Obwohl die Wehrpflicht noch existiert, ist die Einberufung seit 1997 ausgesetzt. Im Jahr 2024 lag der Frauenanteil beim Personal der Streitkräfte bei etwa 14 Prozent.
Mit einer historischen Besonderheit tut sich Großbritannien hervor. Während des Zweiten Weltkriegs führte es eine Wehrpflicht für Frauen ein. Zudem meldeteten sich Frauen freiwillig als Pilotinnen, die Flugzeuge von den Fabriken zu den Einsatzorten überführten.
Inzwischen existiert in Großbritannien seit 1963 keine Wehrpflicht mehr. Stattdessen wird dort auf eine professionelle Berufsarmee gesetzt. Zu Zeiten der Verpflichtung lag das Mindestalter der Rekruten bei 18 Jahren. Aktuell steht man in Großbritannien vor großen Herausforderungen bei der Rekrutierung.
Wehrpflicht in Österreich und der Schweiz
Keine NATO-Mitgliedsstaaten, aber Deutschlands unmittelbare Nachbarn, die Österreicher:innen und Schweizer:innen teilen sich neben geografischen, auch strukturelle Ähnlichkeiten in puncto Verteidigung. Neben der nach wie vor aktiven Wehrpflicht - in Österreich seit 1955, in der Schweiz seit 1848 - sind Frauen von einer Pflicht ausgeschlossen und die Dienstlänge beträgt mindestens sechs Monate.
In der Alpenrepublik Österreich existiert sowohl Wehr- als auch Freiwilligendienst. Ab 17 Jahren müssen sich junge Männer registrieren. Ab 18 leisten sie entweder sechs Monate Wehrdienst oder neun Monate Zivildienst. Frauen können freiwillig dienen.
Jeder Schweizer ist zwischen dem 18. und 30. Lebensjahr verpflichtet, mindestens 245 Tage Militärdienst oder einen zivilen Ersatzdienst zu leisten. Wehrpflichtige durchlaufen eine 18-wöchige Grundausbildung und nehmen in den folgenden zehn Jahren an regelmäßigen Ausbildungsphasen teil. Der Frauenanteil in der Schweizer Armee liegt bei etwa einem Prozent, berichtet die NZZ.
Mehr Gelassenheit im Süden
Portugal schließt die Rückkehr zur Wehrpflicht bisher aus. Diese wurde im Jahr 1999 abgeschafft und das Militär wurde zu einer Berufsarmee umgestaltet. Auch in Spanien und Italien scheinen gegenwärtig keine großen Debatten darüber geführt zu werden.
2001 wurde die Wehrpflicht in Spanien abgeschafft. Ab 18 können Männer und Frauen freiwillig bis zu 36 Monate dienen. Die spanische Regierung darf Bürger:innen im Falle eines nationalen Notstands einberufen. Laut "Stern" rekrutiert das Militär ebenso Bürger:innen aus ehemaligen spanischen Kolonien wie Argentinien, Kolumbien, Kuba und Venezuela.
Sowohl Portugal als auch Spanien haben in den letzten Jahrzehnten den Fokus auf den Ausbau des Sozialstaates gelegt, insbesondere in den Bereichen Bildung und Gesundheitswesen. Aufrüstung werde dort oft als Konkurrenz zu diesen Prioritäten wahrgenommen.
Italien hat 2004 die Wehrpflicht abgeschafft. Männer und Frauen bis 25 Jahre können freiwillig dienen. Einem Großteil der italienischen Bevölkerung scheint ein Engagement für das Militärkorps des Italienischen Roten Kreuzes, die Staatspolizei oder den Carabinieri attraktiver.
Irlands Armee ist offen für Geflüchtete
In Irland, kein NATO-Mitglied, können Männer und Frauen ab 18 Jahren freiwillig Wehrdienst leisten. Dieser dauert insgesamt zwölf Jahre: fünf Jahre aktiv, sieben Jahre in der Reserve. Frauen stellen etwa 7,5 Prozent des Vollzeitpersonals. Die Armee steht Geflüchteten sowie Bürger:innen des Europäischen Wirtschaftsraums offen. Dazu zählen die EU-Staaten, sowie Island, Liechtenstein und Norwegen
- Verwendete Quellen:
- Nachrichtenagentur dpa
- ARD Mediathek: "Zurück zur Wehrpflicht?"
- NZZ: "Militärdienst? Kein Bock: Europas Verteidigung hat ein Nachwuchsproblem"
- Die ZEIT: "Polens Regierung plant militärische Ausbildung für alle Männer"
- Stern: "Wehrpflicht weltweit: Wie andere Länder ihren Dienst gestalten"